Himmelstürmer*innen auf Kurs

Julius Bockelt, Julia Krause-Harder u.a.
Musée Visionnaire, Zürich

28. August 2019 – 16. Januar 2020

www.museevisionnaire.ch

 

„Der Wolkensammler“

„Im Zentrum von Julius Bockelts Interesse steht die Wahrnehmung. Seit vielen Jahren beobachtet er sich verändernde Wolkenformationen. Stun- denlang, tagelang. Abends kommt er mit zahllosen Eindrücken und fast ebenso vielen Wolkenbildern nach Hause. Alle sind in seinem Gedächtnis gespeichert. Nur einen Teil davon hat er mit der Kamera festgehalten, um sie mit anderen Menschen zu teilen. Die Fotos kommen in sein wohlgeordnetes und katalogisiertes Wolkenarchiv, das mittlerweile mehr als 27 000 Bilder umfasst. Zwei gleiche gibt es nicht. Die Kreativität der Natur kennt keine Grenzen. Mehr als um meteorologische Phänomene geht es Julius Bockelt bei seiner Wolkensammlung um den schwebenden Zauber und die Poesie dieser flüchtigen Himmelserscheinungen, die auch in einem magisch anziehenden Film ihren Ausdruck finden.
Julius Bockelt auch Seifenblasen aus. Wie selbstgemachte Wolken pustet er sie zum Himmel. Darauf fängt er sie mit statisch aufgeladenen Plastik- stäben auf und führt sie auf den Weg, den er für sie mitbestimmt. So muss er die fragilen Gebilde nicht sich selbst und den Launen der Luftströmung überlassen, sondern kann ihren Schwebezustand beeinflussen, ja gerade- zu choreographieren. Damit die Seifenblasen widerstandsfähiger sind und nicht gleich zerplatzen, hat er zudem eine Mischung aus Seife und Cola ausgetüftelt. Dadurch wird die Seifenlösung zäher, die Blasen sind elas- tischer und lassen sich leichter führen. Ein Symbol für die Vergänglichkeit bleiben sie trotzdem. Daran hat sich seit den holländischen Stillleben aus dem I7. Jahrhundert bis heute nichts geändert.
Dass Julius Bockelt auch Klanginstallationen macht, erstaunt bei seiner Leidenschaft für das Phänomen der Vergänglichkeit nicht. Es sind musikalische Experimente mit unterschiedlichen Schwingungen, Überlagerungen von Schallwellen und anderen komplexen Klangphänomenen, die der Künstler am Mischpult zu einem eigentlichen Soundtrack komponiert und damit sich und seine Umgebung in eine sphärische Klangwolke hüllt. Die Klanginstallationen stehen ihrerseits wiederum in enger Wechselbeziehung zu seinen grafischen Arbeiten. In seinen vielschichtigen Zeichnungen kreuzen, über- lagern und verdichten sich einfarbige gerade oder gebogene Linien so, dass sie zu dichten Rastern und Geflechten mit Moiré-Effekt werden und an die Darstellung von Interferenzen in der Physik erinnern. Visuelle Phänomene beeinflussen akustische und umgekehrt. Was zuerst war, spielt keine Rolle.“

Text: Yvonne Türler

 

„Die Dinosaurier-Spezialistin“

„In der neu gegründeten Galerie Goldstein im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen begegneten mir im Dezember 20I2 erstmals zwei riesige Dinosaurier von Julia Krause-Harder. Die beiden Skulpturen füllten die Galerie-Räumlichkeiten fast zur Gänze. Ich war so fasziniert, dass ich sofort einen Dinosaurier für meine Sammlung erwerben wollte. Allerdings den kleinsten aus ihrem Oeuvre, den Compsognathus, knapp einen Meter lang. Denn die «Ausstellungsmöglichkeiten» in meinen beiden Wohnorten sind begrenzt. Anders als die Werkstatt im Atelier Goldstein der Lebenshilfe Frankfurt am Main e.V. – die grosszügige Remise einer ehemaligen Ölfabrik –, in der die Künstlerin regelmässig arbeitet. Exakt ein Jahr später: Kosten, Transportdetails usw. für den Kauf «meines» Dinosauriers schienen endlich geklärt. Christiane Cuticchio, die 200I das Atelier Goldstein gründete und seither eines der weltweit innovativsten Ateliers leitet, stellte mich der Künstlerin vor und bat uns, noch über die Kauftransaktion an sich zu sprechen. Aber nur wir beide. In unseren Wintermänteln in dieser ungeheizten Dinosaurier-Werkstatt forderte Julia Krause-Harder mich auf, konkret zu begründen, warum ich ihren kleinen Dinosaurier käuflich erwerben und nach Österreich mitnehmen wolle. Unsere Verhandlung dauerte eineinhalb Stunden. Ob mein Argument, dass in der Gegend meines Hauses in Riedenthal im Weinviertel auch einmal Mammuts lebten, sie letztlich überzeugte, weiss ich bis heute nicht. Wir vereinbarten, dass jeder Gast von mir ihren Dinosaurier sehen wird und dass ich auch publizistisch und ausstellungsmässig für die Sichtbarmachung ihres Kunstwerks sorgen würde. Darum bemühe ich mich seither mit all der Wertschätzung, die ich für diese aussergewöhnliche Künstlerin empfinde. Zwei andere Dinosaurier von ihr, den Nanotyrannus und den Maiasaura, die heuer im Kunstforum Wien im Rahmen der von mir kokuratierten Ausstellung «Flying High. Künstlerinnen der Art Brut» fünf Monate ausgestellt waren, zeigte ich weit über 400 Besuchern und Besucherinnen in persönlichen Führungen.
Julia Krause-Harders künstlerische Mission ist, alle über 800 bekannten Dinosaurierarten in die Welt zu bringen. 3I grosse Skulpturen hat sie bereits realisiert. Die Lebensaufgabe der I973 in Kronberg im Taunus geborenen Künstlerin bleibt enorm. Teil ihrer Produktionsweise ist «Art-based research», um die Lebensumstände, die Körper- und Skelettstrukturen sowie die Kopfform der Dinosaurier wissenschaftlich zu untersuchen. Diese Recherchen bringen sie in naturhistorische Institutionen bis nach New York. Und sie sucht oder findet die Materialien, die sie für ihre Kunstwerke benötigt. Manchmal über lange Zeiträume.

Im Musée Visionnaire werden zwei Dinosaurier gezeigt: Der Rhamphorhynchus von 20I5 und der Ptenarodon von 20I3. Es handelt sich bei beiden um Flugsaurier mittlerer Grösse. Bei dem Rhamphorhynchus stand für Julia Krause-Harder die Ausarbeitung der Flügel, konkret die Flügelform, im Zentrum. Für die Flughäute verwendete sie einen Baumwollstoff, den sie von unten mit bestimmten Applikationen auf die Flügel nähte. Das Arbeiten mit Textilien hat sie übrigens gelernt. Um den bezahnten Schnabel zu produzieren, besorgte sie sich gezielt Kabelbinder. Der Ptenarodon ist ausserdem eine ihrer ersten Skulpturen. Sie verarbeitete hier ausschliesslich gefundene Materialien aus eigenen Beständen. Schwarze Teebeutel vernähte sie zu Tragflächen und der Rumpf besteht aus einem Flokati-Teppich.

Die Flügel ihrer beiden Flugsaurier werden ganz gewiss nicht nur die Künstlerin selbst nach Zürich fliegen lassen.“

Text: Hannah Rieger (Sammlerin von Art Brut seit I99I, www.livinginartbrut.com)