Ostinato

Julius Bockelt
Galerie Christian Berst, Paris

11. September – 10. Oktober 2020

Julius Bockelt stellt sein vielfältiges Werk aus Zeichnungen, Fotografien, Experimenten und Sound in der Galerie Christian Berst Art Brut in Paris vor. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog. 

www.christianberst.com

Text zur Ausstellung von Sven Fritz, erschienen in „Julius Bockelt, Ostinato“ und herausgegeben von Christian Berst Art Brut:

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Julius Bockelt

2009 durfte ich Julius Bockelt erstmals bei einer seiner spontanen künstlerischen Aktionen erleben. Er führte eine Art gesangliche Akrobatik auf: Mit seiner Stimme und seinen Lippen produzierte er simultan zwei unabhängige Töne im Verhältnis einer Quinte – der eigene Körper als polyphone Klangquelle, als Erzeuger eines Intervalls und einer Schwingung.

Mit dieser kurzen Demonstration öffnete Bockelt bereits die Tür zu seinem künstlerischen Schaffen, einem eigenen Kosmos, den er seit seiner frühen Kindheit erforscht, formt und ausdehnt.

Im Zentrum dieses Kosmos stehen intensive Beobachtungen der Natur, eine ausufernde Neugier auf physikalische sowie technische Phänomene und nicht zuletzt die Suche nach der formalen und sinnlichen Verbindung all der Dinge, die ihn umgeben und die er entstehen lässt: Zeichnungen, Fotografien, Klänge, Wolken, Seifenblasen.
Die vielen Facetten seiner Arbeit finden ihre Entsprechung in der Diversität seiner Materialien, von einfach zugänglichen Werkstoffen bis zu sehr spezifischen Instrumenten: Papier, Rapidograph, Computer, Keyboard, Fotoapparat, Polarisationsfilter, Folie, Cola, Spülmittel, Hygrometer, Abwasserrohr, Stofffasern, Karton, Sonnenlicht, Wasser, Luft.

Trotz der wachsenden Komplexität seines Werkes bleibt es in seinen inneren Bezügen stets lesbar und transparent. Die übergeordneten Motive all seiner Werkgruppen sind Schwingung und Vergänglichkeit (wobei in der Schwingung als physikalisches Prinzip auch immer eine zeitliche Dimension enthalten ist).

Bockelts Zeichnungen sind Notationen von Tonschwingungen oder Tonfolgen, die er mit einem Rapidographen auf Papier bringt. Das feine Tuschzeichengerät bestimmt sowohl die Stärke des Strichs als auch das farbliche Spektrum seiner Arbeiten: in seinem Repertoire gibt es monochrome Zeichnungen in schwarz, blau, rot oder grün. Die kleinformatigen Papiere sind entweder unregelmäßig beschnitten oder direkt aus einem Spiralblock entnommen, ganz so, wie es sich in der Suche nach künstlerischer Offenbarung ergibt.

Das entspricht auch seinem Anspruch einer gewissen Unabhängigkeit von besonderen Hilfsmitteln. Er zieht sein strenges Raster frei Hand, von links nach rechts, Linie für Linie, um es in einem nächsten Schritt mit einer weiteren Reihung zu überlagern. Dabei variieren Parameter wie Winkel, Größe und Anzahl der Überlagerungen, je nach Intention des Künstlers. Die mögliche Zahl der Variationen und damit der Kompositionen scheint dabei unendlich groß zu sein, obwohl das künstlerische Prinzip gleich bleibt.
So verkleinert er den Bildraum in einigen Zeichnungen dermaßen, dass Linien zu stufenförmigen Pixeln werden, wie durch einen digitalen Zoom beobachtet. Auf anderen Papieren vergrößert er den Bildraum und legt mehrere Zeichnungen nebeneinander, ähnlich einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung. Mitunter ergeben sich, je nach Perspektive, sehr unterschiedliche Wirkungen wie optisches Flirren, Moiré-Effekte oder räumliche Täuschungen.

Hier wird sichtbar, wie Bockelt seinen klanglichen und visuellen Konzepten im Sinne einer künstlerischen Forschung nachspürt, als wolle er sein Wissen und seine Vorhersagen immer wieder aufs Neue verifizieren. Ein entscheidender Faktor in der Ausführung der Zeichnung ist die technische und gestische Präzision. Denn erst die Genauigkeit des Strichs ermöglicht Bockelt die Gewissheit, die er sucht. Für die Betrachter werden diese kleinformatigen und komplexen Gebilde zu einer visuellen Herausforderung. Ganz zwangsläufig macht man sich beim Anblick dieser ornamentalen Blätter auf die Suche nach dem, was jenseits der reinen Zeichnung liegt: einem Beginn, einer Ordnung und einem Ende – also einer größeren Erzählung.

In einem Großteil seiner Zeichnungen gibt es einen Moment der Auflösung, dort, wo sich die Raster weniger stark verdichten, vergleichbar mit einem Fadeout einzelner Töne.
Diese Form der Auflösung findet sich in vielen Aspekten seiner Arbeit wieder: so, wie sich die Zeichnungen an den Rändern klären, so lösen sich Wolken in seinen fotografischen Beobachtungen langsam auf oder zerfallen seine Seifenblasen in tanzende Fäden oder Häute.

Bockelt ruft hier das Thema der Vergänglichkeit auf und stellt sie wie ein Zauberer zur Schau. Er dehnt die Lebensdauer der Seifenblase, indem er ihre chemische Zusammensetzung verändert und ihre Umgebung für das Überleben anpasst. Statt Wasser verwendet Bockelt ein stark zuckerhaltiges Getränk in Kombination mit Spülmittel. Mit diesen alltäglichen Zutaten erschafft er ein schwebendes Objekt, das sich anders als gewöhnliche Seifenblasen verhält und in dessen Oberfläche trotz der hohen Spannung kleine Öffnungen entstehen. Die optimale Luftfeuchtigkeit für dieses Prozedere liegt bei 15 Prozent. Ist der Raum also trocken genug, kann Bockelt diese Blase wie ein Dirigent eine gefühlte Ewigkeit in der Schwebe halten. Und während er das tut, nimmt er ein orangefarbenes Abflussrohr aus Kunststoff zur Hand, lädt es an seiner Baumwollkleidung elektrostatisch auf und löst die Seifenblase in einem Moment höchster Anspannung in ihrer Grundform auf. Was in diesen kontrollierten Momenten entsteht, ist auch den zufälligen und spezifischen Bedingungen der Situation und des Raumes überlassen: durch diesen performativen Eingriff werden aus Kugeln Trichter, Kegel oder fadenähnliche Gebilde, die das Licht der Umgebung vielfach spiegeln und langsam zu Boden sinken, wo sie sich als klebrige Haut zersetzen.

Auch in seinem Wolkenarchiv, das mehr als 30 000 Fotografien umfasst, wird die Zeit in Form einer Momentaufnahme festgehalten und sichtbar. Schon mit sieben Jahren, lange bevor er mit einer digitalen Kamera ausgestattet war, begann Bockelt mit der Beobachtung von Wolken. Als Cloudspotter streift er in seinen täglichen Exkursionen durch das Stadtgebiet und Umland von Frankfurt, immer auf der Suche nach Konstellationen, die für ihn von formaler Bedeutung sind. Bei Wolkenarten wie z.B. Altocumulus undulatus, Cirrus vertebratus oder bei Kondensstreifen, wie sie Flugzeuge hinterlassen, wird die Nähe zu seinen Zeichnungen offensichtlich. Natürlich geht es hier auch um den Augenblick der Überlagerung und Veränderung flüchtiger Gebilde, doch Bockelts Interesse geht viel tiefer. Die vielen visuellen und physikalischen Geschehnisse am Himmel prägen seine Wahrnehmung und künstlerische Sprache seit jeher. Das wird in einer seiner Beschreibungen der Wolkenarten besonders deutlich: „Cirrus-Wolken sehen aus wie Haare mit seidigem Glanz. Wie Eisfahnen oder die Gräten vom Fisch. Das Aussehen ist ganz absurd. Aber sehr besonders und edel. Cumulus Wolken sind eher wie Brokkoli. Die kennt

jeder. In Büchern werden die immer für Landschaftsmalerei verwendet. Ich bin eher das, was passiert, wenn der Sturm kommt und beide vermischt.“
Diese Projektion der eigenen Wahrnehmung in die Wolken setzt sich in seiner gesamten künstlerischen Praxis fort. So finden die Erscheinungen am Himmel ihre Entsprechung auch in Bockelts musikalischen Sequenzen. Für ihn haben Wolken eine Stimmung, die eng mit der Stimmung seiner Instrumente verbunden ist. Um das Bild einer Wolke beschreiben zu können, entwickelt er eine Tonalität und damit einen Moment, in dem alles eins werden kann: die Wolke, der Klang und die Zeichnung. Der von Julius Bockelt beschriebene Sturm entsteht dann, wenn er seine Instrumente über deren eigentlichen Anwendungszweck hinaus manipuliert: seit Jahren experimentiert er mit den natürlichen Fehlern seiner Keyboards, indem er sie durch Stromunterbrechungen kurzschließt. Das sogenannte Circuit Bending hat eine lange Tradition in der elektronischen und experimentellen Musik. Es geht um das Erzeugen zufälliger und spontaner Sounds, die in Bockelts Arbeit bisweilen undefinierbar klingen und somit an Elemente der Noise- oder Geräuschmusik erinnern.

Der Kontrast zwischen diesen brutalen Klängen und dem schwebenden Ton seiner Stimme oder der feinen Schwingung eines Intervalls könnte kaum größer sein – und dennoch stehen sie in engem Zusammenhang und entwickeln sich, genauso wie seine Zeichnungen, Fotografien und Experimente aus der künstlerischen Suche nach Erkenntnis.

Sven Fritz
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