NO29 Delikatessen

Anselm Baumann
Goldstein Galerie, Frankfurt am Main

29. März – 28. April 2018

Delikatessen und Anselm Baumann

Anselm Baumann (* 1958) ist Bildhauer mit Vorliebe für das Wechselspiel von Raum und Bild. Daher ist seine bevorzugte Kunstform das Relief. Dieses eröffnet ihm die Spannbreite, seine Kunst zwischen körperlich-sinnlicher Modulierung und Bildwirkung aus der Fläche heraus zu entwickeln. Einen frühen Hintergrund dafür bildet seine Kindheit in der spätbarocken Klosterkirche St. Peters im Schwarzwald. In der sakral-illusionistischen Prachtarchitektur aus Putten, Goldornamenten, Gipssäulen, Skulpturen und Fresken blätterte er sonntags seinem Vater die Noten an der Orgel um.

Dass die Räumlichkeit der Goldstein Galerie samt den Malereien auf den Altbauwänden des einstigen Feinkostladens dabei einen ganz besonderen Reiz auf den Künstler ausübt, wird so leicht vorstellbar. Es ist die Verbindung aus dem Funktionalitäts- kosmos einer Metzgerei aus Haken, Kachelwänden oder stabilen Thekenaufsätzen einerseits und aufwendigen Dekorationen zugunsten der „Erlesenheit“ der Speisen andererseits. Dass zudem noch ganz früher die heutigen Galerieräume als Weinstube gedient haben, wo Städelschüler mit ihren Professoren wie Max Beckmann einkehrten, lädt den Ort zusätzlich mit Kunsttradition und dem Hang zum Genuss auf.

Darauf baut Anselm Baumann auf. Für die Installation seiner Reliefarbeiten wählte er die Wand zwischen den Wandmalereien mit dem Durchgang zur dahinter liegenden Bar (Abb. 2). Eine Wand, durch die hindurch zu gehen möglich ist, und die sich so in ihrer Räumlichkeit für die Wahrnehmung der dreidimensionalen Reliefwirkung besonders gut eignet. Zugleich ist es diejenige Wand, die dem Schaufenster gegenüberliegt, und so von außen gänzlich überschaubar ist. Dabei wird über das Einsehen durch die Glasscheibe aus dem Relief ein zweidimensionales Bild mit Tiefenwirkung. Gleichzeitig leistet die Auslagedes Schaufensters die Blicke nach innen hineinzuziehen, um sich von den präsentierten Kunstobjekten und ihrer raffiniertenErscheinung aus der Nähe ansprechen zu lassen. Die dazwischenliegen Seite nutzt der Künstler für die Aufhängung seiner Hakenformationen. In ihrer Funktionalität sind sie eine Reminiszenz an Fleischerhaken. Im Kunstkosmos Anselm Baumanns sind sie jedoch vor allem skulptural-stilisierte Formulierungen, welche die Tatsache thematisieren, dass Kunstgebilde an die Wände mittels dieser – in der Regel unsichtbaren – Funktionselemente angebracht werden, um die Betrachtung von Bildwer- ken zu ermöglichen. Um die Wechselwirkung zwischen Haken und Kunst zu versinnbildlichen, positioniert Anselm Baumann eine Konstellation aus Relief und Haken (Abb.5) in der Nähe des Schaufensters und leistet so eine Überleitung in den Innen- raum der Goldstein Galerie.

„Delikatessen“ betitelt Anselm Baumann seine Ausstellung. Den Einstieg über die Schaufensterauslage bilden singulärePorzellanobjekte aus verschiedenen Oberflächen und bizarren Strukturen in der Anmutung exotischer Schwämme, eigenwillig-pflanzlicher Preziosen oder farbfließender Schalengebilden in Verbindung mit Gefäßen (Abb.5 und 6). Präsentiert werden sie auf Unikatkachelplatten, die Abdrücke gängigen Verpackungsmaterials aus Pappe sind (Abb.3), bewusst zum Augenschmaus arrangiert. Es ist zum einen die Lust am Modellieren und Glasieren aus dem Prozess der Porzellanherstellung heraus – und das in Analogie zum Kochen –, die hier den Schaufensterflaneur anspricht. Zum anderen sind es die konstruktivenPlattenelemente, die dem freien Treiben des unendlichen Formenspiels eine ordnend-kontrollierende Struktur verleihen und sich zu der Vorstellung von appetitanregenden und ordentlich-sauberen Auslagen von Feinkostgeschäften verdichten.

So sehr damit das sinnliche Genießen angesprochen ist, so ist dies jedoch nur ein Aspekt der Kunst Anselm Baumanns.
Die Sinnlichkeit in ihrer Bindung an den Genuss ist vielmehr nur ein Element einer deutlich weitreichenderen künstlerischen Behauptung. Diese besagt im Kern, dass Kunst, um die Wirkung in ihrer Relevanz entfalten zu können, nicht über Abbildungen als Informationen rezipierbar ist, sondern allein über das Verhältnis zu der tatsächlichen körperlichen Präsenz von Betrachtenden. Für die These des Bildhauers bildet die Kritik an der medial-digitalen zweidimensionalen Vorherrschaft des reproduzierten und damit veränderten Abbildes in Format, Textur und Farbe die Folie. Mit seinem sich an der Kunstform Relief orientierten Werk sucht er die Kunstrezeption zuerst und vor allem in der Einmaligkeit des körperlich-sinnlichen Erlebens als einem hoch- differenzierten objekt- und materialgebundenen Phänomen zu begründen. Und nur in dem Moment der Auseinandersetzung mit der Wirkung des real-präsenten Objekts mittels der Gesamtheit unserer sinnlich-rezeptiven Wahrnehmung vermag sich für ihn die Bedeutung von Kunst zu vollziehen bzw. allein von hier aus nimmt sie ihren Lauf und bildet ihren existentiellen Maßstab.

Die Ausstellung „Delikatessen“ ist diesem künstlerischen Ansatz verpflichtet. Der Ort in seiner früheren Bindung an die „Feinkost“, um unverwechselbare Erlebnisse ausgesuchter Spezialitäten für das leibliche Wohl zu ermöglichen, wird dem Künstler zum Anlass, die Einmaligkeit der Kunsterfahrung mit seinen Reliefs aus Gips, Porzellan, Ton und Beton zu behaupten.

Anselm Baumann bespielt die mittlere Wand, indem er zweierlei Arten von Reliefs einsetzt (Abb. 2 und 3). Zum einen wird die gesamte Wand mit 48 weißen Gipskacheln zu einer Fläche gefasst. Diese sind Abdrucke von Stretchwellpappe, dem beliebtenVerpackungsmaterial für zerbrechliche Güter wie Porzellan, Glas und bevorzugt Weinflaschen. Sie bilden quasi den Untergrund für weitere 15 unterschiedlich große Reliefs, die in ihrer Qualität Unikate sind (Abb.1-4). Es entsteht damit eine Schichtung von zweierlei Arten von übereinander präsentierten Werkgruppen. Ist das Material des Untergrundreliefs Gips, bestehenim Unterschied dazu die Frontreliefs aus dem hochwertigeren Porzellan. Auf der Gesamtfläche aus Gipskacheln werden sieals Einzelelemente präsentiert (Abb.2 und 3).

Damit kommen zwei Materialien zum Einsatz, die in der Tradition der Verbindung von Kunst und Lebensmittelkultur eine jeweils eigene Rolle spielen. Kennen wir Gips im Kunstkontext von ornamentalen Wandgestaltungen und Stuckmodellierungen, genießen wir mittels der Darbietungsinszenierung des sogenannten „weißen Goldes“ als Geschirr vor allem ausgesuchte Lebensmittel. Wurde Gips in der Barockkultur als günstiges Baumaterial für die Illusion von Pracht eingesetzt, haben zur gleichen Zeit sich die Fürstenhöfe Europas die Rezeptur für die Herstellung des hauchdünnen transparenten Porzellans erst hart erkämpfen müssen. Anselm Baumann eröffnet damit ein Vexierspiel zwischen zwei Werkstoffen und ihren Kontexten im Gegenüber von Materialwert und Schein in der Bedeutung von zweierlei Arten von Oberflächenwirkungen an der Grenze von Fakt und Fake.

Porzellan neben Gips, Beton, Ton, Holz oder Epoxidharz als einen neuen Werkstoff in den letzten Jahren in seine Reliefproduktion eingeführt zu haben, reizte Anselm Baumann wegen seiner Transparenz, Fragilität und der Grundfarbe Weiß. Alles Eigenschaften, die ihm einerseits erlauben, an die konstruktiven Tradition der Moderne anzuknüpfen und die andererseits gleichzeitig über die verschiedenen Herstellungsprozesse aus den Brandstufen und Glasuren sich verselbständigende Entwicklungen freisetzen. Dabei kommen die Resultate einer Überraschung gleich. Denn das damit einhergehende Form- und Farbenspiel verarbeiten die Kunstobjekte im Sinne der künstlerischen Praxis des kalkulierten Zufalls zu etwas, das bei aller Erfahrung des Künstlers so nicht immer absehbar ist. Die Ergebnisse dieses Wechselspiels aus Formung und Eigenwilligkeit des zerbrechlichen und zu attraktiven Splitterungen neigenden Werkstoffs Porzellan in chemischer wie physikalischer Hinsicht sind dem Künstler ein wesentlicher Genuss mit Hang zur Feinsinnigkeit.

Eva Linhart, Kunsthistorikerin

Veranstaltung:

Montag, 16. April, 18 Uhr
Chouchou
(im Club Michel)
Ein Abend im Restaurant Club Michel mit ausgewählten Delikatessen von Anselm Baumann, der zudem eigens für den Abenddie 20-teilige Vasen-Edition „chouchou“ (französisch: chou = Kohl, chouchou = Liebling) zugunsten Atelier Goldstein auflegt.